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Prof. Dr. Johannes Meinhardt 2017
Frank-Joachim Grossmann: Einfache Lösungen und visuelle Mehrdeutigkeiten

Dass Frank-Joachim Grossmann zuerst Grafikdesign studiert, anschließend aber im Rahmen eines Studiums des Kommunikationsdesigns an der Akademie der bildenden Künste Stuttgart auch als freien Zeichner gearbeitet hat, gibt einen deutlichen Hinweis auf die fruchtbare Spannung in seiner Arbeit; eine Spannung, die sich durch den großen Abstand zwischen Fragestellungen aus dem Grafikdesign – besonders der Typografie – und aus der freien Kunst ergeben. Dabei ist er nicht bereit, die Irritationen und Beunruhigungen, die im Grafikdesign durch die Kunst wirksam werden und dessen Selbstverständlichkeiten erschüttern, aufzugeben; aus dieser Spannung heraus werden viele seiner graphischen und künstlerischen Entscheidungen verständlich.
Selbstverständlich kennt auch Grossmann die Faszination, die von der Überzeugung ausgeht, dass sich für alle grafischen und typografischen Probleme richtige (oder sogar ideale) Lösungen finden lassen; dass sich mit der Hilfe der Geometrie, der Mathematik und der funktionalen Determination für jedes Problems, etwa der Flächenorganisation oder der Gestaltung einer Schrift, eine rationale und damit perfekte Antwort ausarbeiten lasse. Vor allem die Züricher Konkreten, vorweg Max Bill, haben immer wieder Möglichkeiten gefunden, mit derselben geometrisch-rationalen Logik immanente Probleme der Malerei und funktionale Probleme des Grafikdesigns zu bearbeiten. Doch zeigte sich Grossmann, dass die simple und fortschrittsgläubige Rationalität der geometrischen Lösungen (mehrere spätantike Autoren berichteten, dass Platon über das Eingangstor der platonischen Akademie schreiben ließ: „Eintritt für Nichtgeometer verboten“) unzureichend ist. Das wird spürbar in seiner Vorliebe für Holzschnitt: im späten Mittelalters und in der frühen Neuzeit, zwischen 1400 und 1550, war der Holzschnitt das mit Abstand wichtigste grafische Medium, das sowohl Schrift als auch Abbildungen im Druck vereinigen konnte. Das gilt besonders für das erste Massenmedium der europäischen Neuzeit, die Einblattdrucke, durch die sich Reformation und Gegenreformation auf das Heftigste bekämpften, beleidigten und verleumdeten. In den Holzschnitt-Einblattdrucken traten Schrift, Bildszenen und Bildzeichen auf das Engste verbunden auf; so dass das Papier dieser Drucke zugleich als neutraler Schriftträger mit seiner Ordnung aus waagerechten, übereinanderliegenden Zeilen auftritt, als Träger von Bildzeichen, deren Anordnung in der Fläche kompositionelle Beziehungen ins Spiel bringt, und als Bildfläche, die einen Bildraum zu sehen gibt, die wie ein Fenster auf den Bildraum hin transparent zu sein scheint.
Solche Mehrdeutigkeit der Bildfläche, und ebenso der Bildelemente, hat Grossmann stark interessiert. Deswegen sind Futurismus und Dada für ihn vorbildlich. Indem Marinetti Sätze zerlegte und auf diese Weise Wörter als eher expressive denn semantische Einheiten befreite (parole in libertá) und Cangiullo und Balla nicht nur Wörter, sondern auch Wortfragmente, Buchstaben und Onomatopoesien in der Bildfläche energisch und energetisch komponierten, wurde die vorher neutrale, bloß funktionale Trägerfläche der Schriftzeichen zur komponierten, gespannten Bildfläche, in der Buchstaben und Wörter in visuelle Elemente übergehen, deren Zusammenspiel als geometrische Formen und als Farben mindestens so wichtig wird wie ihre Lesbarkeit als Phoneme und Wörter.
Dazu kommt, dass Grossmann seine Arbeit vor allem vom Druck aus als Drucke versteht: und damit als das Übereinanderlegen und Schichten unterschiedlichster eigenständiger Flächen – die jeweils ein eigenes `Original´ voraussetzen. Diese Betrachtungsweise, die Bild- oder Schriftflächen nicht nur als Fläche wahrnimmt, sondern sie sich auch in die Tiefendimension der Schichtung erstrecken sieht, nimmt weniger illusionistische Bildräume wahr, die Konstruktion oder Suggestion einer dritten Dimension, sondern mehr das materielle Übereinander mit seinen kaum zu kontrollierenden farbigen Wechselwirkungen, Semitransparenzen und Transparenzen. Selbst die Arbeit am Computerbildschirm lässt sich so als Schichtung verstehen: das Schichten und Übereinanderlegen von Farben oder Formen geschieht auch im materiellen Prozess des Druckens, aber ebenso durch das Überlagern und Schichten von farbigen Pixelflächen auf dem Bildschirm. Am Computer interessiert ihn dementsprechend nicht das `Malen´ mit Pixeln, sondern das Übereinanderlegen. Was geschichtet wird, sind immer schon komplexe Konstellationen von Formen und Farben – die sehr oft auf die Form eines Buchstabens zurückgehen. Solches Schichten steht der Animation nahe: die einzelnen Schichten könnten auch, statt im Übereinander der Gleichzeitigkeit angesiedelt zu sein, im Nacheinander eines Zeitflusses präsentiert werden.
Ein besonders radikales Verfahren zeigt das Buch „Verpackungen“ von 2000: dieses Buch präsentiert grob schwarz-weiß gerasterte, schräge oder verwirrende Ausschnitte aus alltäglichen konventionellen Verpackungen – die selbst jedoch farbig und technisch perfekt sind. In diesen Ausschnitten, die auch nicht mehr orthogonal geschnitten oder eingesetzt wurden, werden völlig unterschiedliche Typen von Wahrnehmungsgegenständen gleichwertig demonstriert: Buchstaben, Wörter, dynamische Formen, geometrische Formen, Abbildungen, ikonische Bilder, Grauwerte oder farbige Flächen. So entsteht eine Art visuelles Verwirrspiel, in dem jedes Detail wieder einer anderen Wahrnehmungsordnung zugehört und das dementsprechend die Wahrnehmung einer grundlegenden Irritation aussetzt.
In den meisten seiner Digitaldrucke, ebenso wie in seinen Holzschnitten, ist ein Buchstabe oder eine Zahl der Ausgangspunkt. Diese werden so eingesetzt, dass sie beispielsweise zu Flächenelementen werden (wenn die Linien der Buchstaben dort, wo das möglich ist, zugleich die Kanten der Fläche ergeben), oder dass sie als geometrische Kompositionen in der Fläche funktionieren. Werden dann mehrere derselben Buchstaben – teilweise in unterschiedlichen Schriften – in der Fläche verschoben, gedreht oder addiert, entstehen geometrische Kompositionen, in denen die Buchstaben als Formen eingesetzt sind, farbige und flächige Qualitäten annehmen. Dazu treten unterschiedliche Farben und damit farbigen Schichten, teilweise sogar grafisch-expressive Werte der Linien. Diese Vieldeutigkeit macht aus den einfachen und richtigen Lösungen der Druckgrafik komplexe, mehrdeutige und irritierende Anforderungen an die Wahrnehmung.

© Prof. Dr. Johannes Meinhardt